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DER SCHWARZWALD

Was er für den Künstler Hardy Kaiser bedeutet

JENSEITS DES BOLLENHUTES

 „ 

DIe Tracht in meinem Heimatort Rothaus kommt ohne Bollenhut aus. Wir hatten keine Kuckucksuhr. Mein Vater musste auch nicht mit Uhren auf dem Rücken durch den meterhoch verschneiten Tannenwald wandern, wo ihm Auerhähne und der sagenumwobene Bollimänkel begegneten.

Meine Kindheit war in einem ganz anderen als dem heutigen Sinne von der wunderbaren Landschaft und Kultur des Schwarzwaldes geprägt.

 

Der Schwarzwald hat mich mit Bildern aufgeladen, die mich befähigen meine ganz eigenen Ikonen zu gestalten. Und da muss nicht zwingend ein Bollenhut rein, aber es darf."

DIE ZWEI GESICHTER DES SCHWARZWALDS

Nichts ist für mich so ambivalent wie Rothaus, der Ort, in dem ich aufwuchs.


Ich wuchs in Rothaus auf, einem Ort mit damals vier Häusern, einem Tagungshotel und einer rosafarben angestrichenen Brauerei.
Ich hatte zwei Spielkameraden, das waren meine Nachbarskinder.
Mit denen unternahm ich nachmittagslange Streifzüge zum Entenweiher, in den umgebenden Hochwald und auf die Blumenwiese neben unserem mit Holzschindeln beschlagenen Haus.
Es duftete nach Zahnbürstenblumen, Sauerampfer und oben bei der Brauerei wunderbar würzig nach Treber. Hinter unserem Haus betrieb ich jedes Jahr aufs Neue eine Kaulquappenaufzucht aus selbst am Ententeich eingesammeltem Froschlaich in einer ausgedienten Babybadewanne.
In zwei Jahren gelang mir sogar die Aufzucht einiger Bergmolche!


Überhaupt waren Tiere sehr viel zahlreichere Spielpartner als Menschenkinder.
Da waren mindestens acht Katzen, nacheinander und zum Teil auch gleichzeitig,
Da war ein Hund. Der hat bei der alkoholkranken Nachbarin (nicht die Mutter der Nachbarskinder) Rattengift erwischt und musste verbluten.
Da waren ungefähr 12 Hühner und ein Gockel. Ein Huhn hatte ich gezähmt. Es ließ sich widerstandslos hochheben und in der Gegend herumtragen. Irgendwann war es so alt, dass es anfing seine Federn zu verlieren und war fortan nicht mehr von zwei anderen halbnackten Kolleginnen zu unterscheiden, während es in die Anonymität zurückglitt.
Mein Vater hatte für die Hühner eine achteckige Hütte mit spitz zulaufendem Dach gebaut, in der ich oft und ausdauernd den Hühnern beim Eierlegen zusah. Ich konnte perfekt das angestrengt klingende Gackern beim Legevorgang und das Freudengackern nach der Eiablage nachahmen, ich konnte krähen wie ein Hahn und war ein ziemlich guter Sänger der ersten Stimme beim Grafenhausemer Kinderchor unter dem Stiegeler Alois.
 

Fridolin

Nachdem die Hühner alle in den Hühnerhimmel gewechselt waren – zwei davon hatte sich ein Kurgasthund vorgenommen, der beim Vorbeilaufen seinen verkrusteten Jagdtrieb wiederentdeckt hatte – beherbergte die Hühnerhütte mein Lieblingsstier:
Der Becken-Franz hatte bei Baumfällarbeiten ein Waldkauzküken entdeckt, das vom Baum gefallen war. Er brachte es uns mit. Wir nannten das Küken Fridolin und zogen es mit Abfällen von der EDEKA-Metzgerei in Grafenhausen auf. Zuerst wohnte Fridolin in unserer Küche. Als er heranwuchs übernachtete oder badete er vorzugsweise in der Spüle und kackte die komplette Küche zu.
Als die Kacke überhand nahm, wurde der Fridolin ins ehemalige Hühnerhaus ausquartiert.
Noch größer geworden hielten wir es für sinnvoll ihm das Fliegen beizubringen. Naja, eigentlich hat er es sich schon selbst beigebracht, aber wir gaben ihm immer Starthilfe von unserer ausgestreckten Hand. Eigentlich sollte Fridolin das Fliegen lernen, damit er sich in die Freiheit der Waldes begab.
Er erwies sich jedoch als überaus treuer Begleiter und brachte uns, lautlos aus dem Halbdunkel heranfliegend, gerne selbst erlegte Mäuse mit, sobald wir uns in den Garten stellten und in die Hände klatschten oder ihn riefen.
Fridolin war außerdem ein Kenner der Blasmusik, und da speziell Verehrer der öfters stattfindenden Kurkonzerte der Trachtenappelle Rothaus im Garten des benachbarten Tagungshotels. Dorthin wurde ich öfter mal von der Mutter der Nachbarskinder, die mit ihrem Mann das Hotel verwaltete, gerufen, um Fridolin vom Baum zu pflücken, von dem aus der interessiert den Konzerten lauschte und nebenbei die Kurgäste in Panik versetzte. Ein Klatscher genügte, und Fridolin flog wahlweise auf meine ausgestreckte Hand oder meinen Kopf (Mütze!) und ließ sich von mir nach Hause tragen.
Morgens flog er durchs geöffnete Fenster meines Zimmers und weckte mich auf, indem er an meinem Ohrläppchen knabberte.

Ein anderes geliebtes Tier war mein Wellensittich Felix, der ebenfalls handzahm war und frei im Zimmer umherfliegen konnte. Er war ein Abkömmling einer Wellensittichdame, die ich während meines Ferienjobs bei der Firma Lonza gefunden und vor den gefräßigen Avancen eines italienischen Kollegen gerettet hatte. Aus Mangel an Kreativität hatte ich sie mit dem Fundort benannt. Das gleiche Los traf übrigens auch eine unserer Katzen, die wir einfach nur „Katz“ nannten.

Außerdem gab’s noch ein paar Enten und Gänse, letztere am Ende ihrer Tage recht aggressiv und blaue Flecken auf Menschenwaden verteilend, was ihr vorzeitiges Ende im Kochtopf einläutete. Sie schmeckten zäh wie Schuhleder, und keiner mochte so recht. Wir hätten ihnen zu Lebzeiten keine Namen geben dürfen!

Ach ja: Als ich ganz klein war, hatte meine Oma einige Stallhasen. Unser Haus war nämlich im Auftrag des Forstamtes für Waldarbeiter gebaut worden, die sich in den 50er Jahren noch gerne selbst versorgt hatten, weshalb dem Doppelhaus zwei große Scheunentore und ein Heuschopf unterm Dach, sowie ein kleiner Ökonomieteil verpasst worden war – alles doppelt – und da waren eben die Stallhasen drin. Einen davon hatte ich geärgert, indem ich ihm abwechselnd meinen Finger und eine Möhre hinhielt. Mein Finger hat heute noch eine beinahe rundherum laufende Narbe, weil der Hase irgendwann Möhre und Finger nicht mehr hatte unterscheiden wollen und einfach mal beherzt zugebissen hatte.

 

Aber eigentlich wollte ich ja gar nicht so in die Tierwelt abschweifen, sondern was über den Schwarzwald erzählen.


Mein Nachbar war Förster und Jäger. Der hängte gerne mal geschossene Rehe und Hasen zum Ausbluten an der Wäscheleine auf … jetzt reicht’s aber mit den Viechern!

Also, jedenfalls war in Rothaus in den Siebzigerjahren der Hund vergraben (um mal bei den Tieren zu bleiben). Es gab definitiv mehr Tiere als Menschen, jedenfalls echte Menschen: Natürlich waren da auch immer wieder mal ein paar Kurgäste und Tagungsgäste, aber die fielen alle unter das Label „Luftschnapper“ und waren damit eben keine richtigen Menschen.
Und es gab definitiv mehr Wald als Tiere.

Und ich hatte einen eigenen Urwald. So nannte ich den Flecken, auf dem die nach meiner Kenntnis bis heute größten Exemplare von Japanischem Staudenknöterich wuchsen. Die bambusartigen Pflanzen wucherten jedes Jahr aufs Neue vier oder fünf Meter in die Höhe und hatten Blätter, aus denen man sich Mützen basteln konnte. Olli und ich schlugen uns Wege durch Brennnessel- und Knöterichgestrüpp und gingen ganz in Abenteuerlust auf. Meine arme Oma musste dann immder geduldig und anerkennend unser Wegenetz abschreiten.

Und überall Rothausbier.
Das lag daran, dass die erwähnte Brauerei gerade mal 50 Meter von unserem Haus entfernt war.
Unser Schlittenhügel bestand aus inzwischen überwachsenem, 8 Meter hoch aufgeschüttetem Altglas aus Bügelverschlussflaschen, und oben drauf thronte die rosafarbene Wasserveredelungsanlage.
Natürlich arbeiteten fast alle Leute aus den umliegenden Ortsteilen dort. Auch mein Vater und meine Mutter. Zusammen bekamen sie im Monat glaub ich 10 Kästen Rothausbier-Haustrunk, von dem wir zwei Kästen selber tranken und den Rest an die Verwandtschaft oder Arbeitskollegen meiner Eltern verteilten, denen ihr Monatskontingent nicht ausreichte (!). Auf den Flaschen stand immer „Steuerfrei und unverkäuflich“, was ich damals mit „darf ich nicht beim Autofahren trinken“ übersetzte.


An Samstagen besuchte uns recht häufig der Friddle von Amertsfeld, der heimliche Namensgeber unseres Waldkauzes. Der Friddle kam eigentlich immer einfach so rein, setzte sich an den Küchentisch, und meine Mutter stellte in der Spüle (ja, genau die, in der auch der Waldkauz gerne badete) ein zwei Flaschen Haustrunk ab und übergoss sie mit warmem Wasser, das sie auf dem Holzherd gemacht hatte. Der Friddle vertrug nämlich nur warmes Bier!
Dann wurde ein bisschen über politisiert und über den gemeinsamen Arbeitgeber gelästert, und dann ging er wieder nach Amertsfeld, der Friddle.
Manchmal kam auch der Stiegeler Karl-Heinz, „Knarro“ genannt, auf ein warmes Bier vorbei. Der hatte einen Sohn in meinem Alter, den Olli. Olli war viele Jahre mein bester Freund, bis seine Leidenschaft für Motorräder entflammte und er sich seine nagelnagelneue YAMAHA DT80 LC2 in sein Jugendzimmer stellte, um das halbe Jahr bis zu seinem 16. Geburtstag abzuwarten und jeden Tag ein bisschen daran herum zu polieren. Ab da war er irgendwie der beste Freund von meinem Vater.


Manchmal kam auch die Verwandschaft oder ein anderer Nachbar (nicht die Hotelverwalter) vorbei, um hinterm Haus zu grillen und ein paar Dutzend Flaschen Haustrunk zu vertilgen (wahlweise kellerkalt oder fridolinbadewannenwarm).
Ich schaukelte auf meiner 4 Meter hohen Schaukel aus abgeflexten Kühlrohren (aus der Brauerei) und spuckte so weit ich konnte oder kletterte auf Bäume. Manchmal fiel ich auch herunter, einmal landete ich nur ein paar Zentimeter mit dem Kopf vom Jägerzaun entfernt. Mit lediglich zwei gebrochenen Rippen durfte ich also am Leben bleiben!

Weil aber spielkameradenmäßig in den frühen Kinderjahren bis auf Olli und Hotelverwalterkinder eher Fehlanzeige war, verbrachte ich sehr viel Zeit mit dem Herumstreunen im Wald, beim Baumhüttenbauen, beim Legobauen und beim Basteln und Malen. Als ich noch ganz klein war, hab ich sehr viel Zeit bei meiner Oma verbracht, die die zweite Hälfte unseres Doppelhexenhäusles bewohnte. Und die verschönerte schepprige Milchkannen, Schiefertafeln von alten Dächern und gefundene Baumwurzeln mit Bauernmalerei. Außerdem strickte und nähte sie mir mindestens 65 Puppen, Kuscheltiere und Fantasieviecher aus Woll- und Stoffresten, klebte mir Matchboxautoschlangen mit Tesafilm zusammen und schmierte mir Nutellabrote genau so wie sie auf dem Glas abgebildet waren. Dabei bekam sie dann allerdings einen Tobsuchtsanfall!
Ich schaute ihr zu, probierte selber und versuchte beim Stricken heruntergefallene Maschen auf dem Boden zu finden.


Da sprang der kreative Funke auf mich über.


Und mein Vater war ein begnadeter Handwerker. Der Improvisierer vor dem Herrn, immer interessiert an neuen Herausforderungen und Pojekten. Er baute motorbetriebene Schubkarren zum Holztransport, goss sich die Betonplatten fürs Gewächshaus selbst, schweißte Brunnen aus V2A zusammen, schnitzte zum Spaß Fasnetlarven, laminierte sich aus Glasfasergewebe und Stinkharz Motorradkoffer (weil die Original-GoldWing-Koffer zu hässlich waren) und war schon immer in der Lage aus Scheiße Gold zu machen.
Da hab ich schon auch was mitgenommen!
 

Das zweite Gesicht

Als ich irgendwann von Rothaus in die ferne Metropole Freiburg gezogen war zum Studieren ereignete sich Sonderbares:

Ich hatte mich zum Studium des Grafikdesign beworben und war völlig überraschend summa cum laude ob meiner einzigartigen Bewerbungsmappe genommen worden, in der wohl einiges an Schwarzwälder Eigenheit gesteckt hatte.
Irgendwann bekam ich von meinen Eltern mit, dass sie in ein anderes Haus ziehen wollten, ein eigenes Haus diesmal, in Brünlisbach – nur 400 Meter von Rothaus entfernt. Die Brauerei hatte nämlich angedeutet sie benötige den Platz, auf dem das alte Haus stehe, für den Bau eines Parkplatzes.
Als erstes machten sie meinen Urwald platt. Wer Staudenknöterich kennt der weiß, dass es einiges an Überzeugung und erklärtem Willen benötigt, um ihn zum Gehen zu bewegen. Aber es gelang.
Dann wurde tatsächlich das Haus mit zwei, drei beherzten Griffen eines Schaufelbaggers zu einem hübschen Häufchen Schindeln und Biberschwänzen zerlegt und das Grundstück verparkplatzt.
Die Brauerei war inzwischen auf 20 Meter Nähe herangewachsen und hatte den historischen Bierflaschenscherbenberg dabei wieder verschlungen. Außerden verleibte sie sich den alten Entenweiher zum größten Teil ein und spuckte an anderer Stelle wieder ein hübsches kleines Gewässerchen aus, das nun als Randnotiz am schwungvoll in die neu entstandene Landschaft drapierten „Zäpfleweg“ liegt. Ja: Zäpfleweg!
Das berühmteste Bier aus dem Schwarzwald, das Tannenzäpfle. Kultobjekt und jetzt Gegenstand zweimeterhoher wasserspeiender Bronzestatuen, wurde zum Thema eines Pfades, der vorbei an meinem Elternhaus, über den Entenweiher, durch den Pfifferlingwald bis hin zum Wasserreservoir führte, auf dem ich meine ersten Erfahrungen in der Liebe gemacht hatte.
das Äußere der früher abgelegenen Brauerei wurde mit flächendeckenden Fotomotiven des Inneren überzogen, um den nun zu tausenden anreisenden Luftschnappern und Zäpflefans das Bierbrauen näher zu bringen.
Auf der anderen Seite verschwanden das Bushaltehäusle, ja die ganze Kreuzung, an der ich als Kind immer auf den Schulbus gewartet hatte und machten einer Freiluftinszenierung der rosafarbenen Bierkathedrale Platz. Die frühere Wäscherei des Hotels, in der zeitweise meine zweite Oma gearbeitet hatte, wich einem High-End-Showroom der Schwarzwälder Ikonisierung: Verspiegelte Wände mit Zäpfleflaschen in allen Farben glänzen gegen Kuckucksuhrenausstellungen und Bollenhutbildbände an. Überall tannenzapft es, und der Luftschnapper deckt sich mit Tragetaschen, Regenschirmen und Speckbrettle ein.
Da, wo früher Fridolin auf dem Baum saß und Leute erschreckte gibt es heute einen ausladenden Biergarten, in dem jedes Jahr ein Country- und Westernfestival stattfindet. Da, wo die Nachbarskinder wohnten, ist jetzt ein Abenteuerspielplatz, mein früherer Buamhausbaum mittendrin und inzwischen gefällt.

Wenn ich heute nach Rothaus in den Schwarzwald gehe, dann sehe ich alles immer mit dem zweiten Gesicht:
Da, hinter der rosafarbenen Wand sehe ich noch unser Abenteurerversteck im meterhohen Schnee, dort, hinter dem Parkplatz, sitze ich ganz allein vor meinem Knöterich-Urwald und schaue meinen Kaulquappen beim Umherschwänzeln zu. Drei, nein vier, fünf haben hinten schon kleine Beinchen und verlassen bald die Babybadewanne, um in der Welt ein neues Zuhause zu suchen.

Die Metamorphose der gesamten Landschaft meiner Kinderzeit hat in mir die Erinnerungen überleben und weiterwachsen lassen. Alles ist noch da, und nach wie vor schöpfe ich aus der überbordenden Naturerfahrung meiner Kindheitstage. So wie auch heute noch die Brauerei aus 7 Quellen in 1.000 Metern Höhe ihr Quellwasser schöpft.

Ich hätte es schlechter erwischen können!

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